abgeschlossen 11/2012
Aus den Ergebnissen der Deutschen Wirbelsäulenstudie (DWS) – die die Basis der hier vorgestellten DWS-Richtwertestudie darstellt – ist die grundsätzliche Aussage ableitbar, dass auch unterhalb bestimmter Schwellenwerte des Mainz-Dortmunder Dosismodells (MDD) Risiken für die Entstehung einer bandscheibenbedingten Erkrankung der Lendenwirbelsäule bestehen. In den seinerzeit verwendeten Dosismodellen wurden die Schwellenwerte zu Bandscheiben-Druckkraft, Rumpfvorneigung und Tagesdosis nicht getrennt voneinander, sondern in Kombination variiert. Daher erlaubten die bisherigen Auswertungen der DWS keine Aussage zu Dosismodellen, die durch definierte Absenkung einzelner Eigenschaften des MDD – bspw. der Druckkraft – bei Beibehaltung der übrigen Eigenschaften des MDD gekennzeichnet sind. Im ersten Projektteil der vorliegenden DWS-Richtwertestudie werden die Schwellenwerte (Druckkraft, Rumpfvorneigung, Tagesdosis) einzeln und anschließend auch kombiniert variiert; dabei wird die Anpassungsgüte der resultierenden Dosismodelle zur Beschreibung des Dosis-Wirkungs-Zusammenhanges auf der Grundlage der kontinuierlichen Dosiswerte anstelle klassierter Daten in der DWS und unter Einsatz verschiedener statistischer Methoden (z. B. Akaike Information Criterion (AIC), Multi-Modell-Ansätze, fraktionale Polynome) ermittelt. Im zweiten Projektteil wird der Frage nachgegangen, inwieweit sich die gefundenen am besten anpassenden Modelle mit möglichst einfachen Bestimmungsgleichungen zur retrospektiven Abschätzung der Bandscheiben-Druckkraft abbilden lassen.
In einer vertieften Auswertung der DWS werden die folgenden Parameter getrennt voneinander variiert: Projektteil 1) Tagesdosis, Druckkraft, Grad der Rumpfneigung Projektteil 2) Weiterhin wird untersucht, inwieweit sich die Risiken für bandscheibenbedingte Erkrankungen mit vereinfachten, in der Berufskrankheiten-Anerkennungspraxis einsetzbaren Bestimmungsgleichungen abbilden lassen.
Innerhalb der hier vorgestellten DWS-Richtwertestudie wurden in Sensitivitätsanalysen zunächst zwei grundsätzliche Aspekte des MDD bei der Berechnung von Tagesdosen bestätigt: [a] quadratische Wichtung der Druckkraft relativ zur Einwirkungsdauer (im Vergleich zu einem linearen Ansatz mit gleicher Wichtung) sowie [b] Einbeziehung des gesamten Druckkraftwertes bei der Dosiskumulation im Vergleich zu Ansätzen, bei denen nur Anteile als risikorelevant angesehen werden (oberhalb Schwellenwert bzw. oberhalb Grundbelastung im Stehen). Darüber hinaus hat die Reanalyse der DWS-Daten auf Basis von kontinuierlichen Expositionswerten (anstelle von kategorisierten in der DWS) einen Anstieg des Erkrankungsrisikos mit Zunahme der Lebensdosis für alle vier Fallgruppen bestätigt. Den Ergebnissen der DWS-Richtwertestudie zufolge führt insbesondere eine Verringerung der vom MDD vorgesehenen Schwellen bezüglich der Tagesdosis (von 5,5 auf 2,0 kNh bei Männern und von 3,5 auf 0,5 kNh bei Frauen) und der Rumpfneigung (von 90° auf 45° Rumpfvorneigungswinkel) zu einer verbesserten Abbildung der Bandscheiben-Erkrankungsrisiken, während die im MDD vorgesehenen geschlechtsspezifischen Schwellen bezüglich der Bandscheiben-Druckkraft (3,2 kN für Männer, 2,5 kN für Frauen) im Ergebnis der vorliegenden Studie im Sinne von „Best Estimates“ bestätigt wurden und daher als wissenschaftlich vertretbar gelten können. Weiterhin erweisen sich auch im Ergebnis unserer vertiefenden Reanalyse der DWS-Daten die vom MDD vorgesehenen Schwellen für die kumulative Lebensdosis als zu hoch; es ergibt sich auf der Grundlage der angegebenen Schwellenwert-Modifikationen – wenn auch unter dem Vorbehalt einer Unsicherheit dieses Punktschätzers – eine Verdopplungsdosis des Bandscheiben-Erkrankungsrisikos von etwa 7 MNh bei Männern und etwa 3 MNh bei Frauen im Sinne von „Best Estimates“. Ca. ein Drittel der Allgemeinbevölkerung erreicht oder überschreitet diese genannten Lebensdosiswerte. Neben den gewonnenen statistisch-epidemiologischen Erkenntnissen müssen in die Entwicklung geeigneter Richtwerte auch Aspekte der biologischen Plausibilität, der praktischen Handhabbarkeit und der Existenz geeigneter „Messinstrumente“ einbezogen werden. Als weiteres wesentliches Forschungsergebnis mit hoher praktischer Relevanz für die gesetzliche Unfallversicherung ist die Entwicklung neuer Bestimmungsgleichungen zur retrospektiven Abschätzung der Druckkräfte für „gewöhnliche” Hebe-, Trage-, Halte-, Absetz- und Umsetztätigkeiten anzusehen: Diese Bestimmungsgleichungen sind als wissenschaftlich gut abgesichert anzusehen, denn mit ihrem Einsatz lassen sich die Kernergebnisse der vorliegenden Reanalyse gut reproduzieren. Weiterhin sind diese Bestimmungsgleichungen trotz ihrer erhöhten Komplexität im Vergleich mit den bisher im BK-Ermittlungsverfahren eingesetzten Bestimmungsgleichungen als praxistauglich anzusehen.
-branchenübergreifend-
Gefährdungsart(en):Mechanische Gefährdungen
Schlagworte:Berufskrankheit, Muskel-Skelett-Erkrankungen (außer Krebserkrankungen)
Weitere Schlagworte zum Projekt:Auswertung Deutsche Wirbelsäulenstudie (DWS), EPILIFT, Mainz-Dortmunder-Dosismodell (MDD), Berufskrankheit (BK) 2108, Lendenwirbelsäule, Bandscheibe