Ertüchtigung und Ausbau der Stromnetze

Bild: Countrypixel - stock.adobe.com

Deutschland will bis 2030 durch die massive Installation von Windenergieanlagen (WEA) an Land und zu Wasser und Photovoltaik(PV)-Anlagen im Stromsektor den Anteil Erneuerbarer Energien (EE) am Bruttostromverbrauch von gut 46 % im Jahr 2022 auf mindestens 80 % fast verdoppeln [1].

Eine erfolgreiche Energiewende setzt die Ertüchtigung und den Ausbau der Stromnetze voraus, da sich mit dem Ausbau von EE und der Stilllegung von Atom- und Kohlekraftwerken die Standorte der Stromproduktion verändern und die Volatilität der Stromerzeugung zunimmt:

Strom aus Windkraft entsteht in WEA im Meer ("offshore") und an Land ("onshore"), vorwiegend in der Nordsee, nordwestlichen und nordöstlichen Landesteilen. Er muss von dort zu den Lastschwerpunkten in den Westen und Süden transportiert werden. Im Übertragungsnetz sind neue Stromtrassen erforderlich, um steigende Mengen von Strom aus Windenergie ins Netz einspeisen und transportieren zu können und Netzengpässe zu vermeiden [2]. Aktuell gibt es 119 gesetzlich festgeschriebene Netzausbauvorhaben mit einer Gesamtlänge von knapp 14 000 km [3].

Durch die Zunahme an PV-Anlagen wird immer mehr Strom dezentral erzeugt. Und auch der dezentrale Stromverbrauch steigt perspektivisch durch die Umstellung auf Elektromobilität. Diese größere Dezentralität und auch die höhere Volatilität der Stromerzeugung aus EE erfordern eine Anpassung der Verteilnetze.


  • Was beschleunigt, was bremst den Trend?

    Durch weitreichende Dekarbonisierungsbestrebungen wie die Elektrifizierung des Verkehrs, den vermehrten Einsatz von Wärmepumpen im Wärmemarkt und die Erzeugung von grünem Wasserstoff für die Industrie wird die Stromnachfrage bis 2050 trotz erheblicher Energieeffizienzsteigerungen stark zunehmen [2]. Diese Effekte und die erklärten Ziele der Energiewende dürften den Trend stark befeuern.

    Gleichzeitig gibt es Faktoren, die den Bedarf des Stromnetzausbaus vermindern:

    Der Übertragungs- und Verteilnetzausbau folgt dem "NOVA-Prinzip", das der Netz-Optimierung Vorrang vor Verstärkung und Ausbau gibt [2]. Netzoptimierungen sind nicht nur in Bezug auf die Ressourceneffizienz dem Ausbau vorzuziehen, sondern auch vor dem Hintergrund der Zunahme von Extremwettern. Wetterbeständige Anlagen und Einrichtungen der Stromversorgung tragen zur Stabilität des Netzes und zur Versorgungssicherheit bei. Beispiele für Netzoptimierungen sind der Einsatz von Hochtemperaturleiterseilen und Hochleistungskabeln (Supraleiterkabel). Über Erdverkabelung, d. h. die unterirdische Verlegung von Stromleitungen, kann Strom besonders wetterresistent transportiert werden.

    Ein weiteres Beispiel für Netzoptimierung ist das Freileitungsmonitoring. Es sorgt dafür, dass die Übertragungsleistung jedes einzelnen Leiterseils temperaturabhängig angepasst wird [4]. Eine Steuerung der Übertragungsleistung mittels künstlicher Intelligenzüber vernetzte smarte Sensorknoten wird aktuell erprobt.

    Insgesamt verringert sich der Ausbaubedarf durch eine verbrauchsgerechte Verteilung dezentraler Stromerzeuger und wenn Echtzeitinformationen über Netzzustandsdaten (aktueller Verbrauch und Einspeiseleistung dezentraler Erzeuger) berücksichtigt werden können [5; 6], d. h. wenn der Netzausbau und Systeme zum intelligenten Verteilnetz-Management kombiniert werden. Aktuell wird eine digitale Infrastruktur (Smart Grid) geschaffen, bei der sich alle Elemente innerhalb des Stromnetzes so steuern und aufeinander abstimmen lassen, dass maximale Energieeffizienz und Versorgungssicherheit erreicht werden, auch bei zunehmendem Anteil EE [6].

    Speichertechnologien (z. B. neuartige Akkus und Batterien oder Power-to-Gas (z. B. Wasserstoff) sollen überschüssige EE verwertbar machen und erhöhen die Flexibilität im Netz sowie die Energieeffizienz. Sie bieten große Potenziale in Bezug auf die Dekarbonisierung und reduzieren den Stromnetzausbau und die damit verbundenen Investitionen.

    Weitere Faktoren, die die Ertüchtigung und den Ausbau der Stromnetze bremsen, sind sehr aufwendige und langwierige Planungs- und Genehmigungsverfahren, nicht zuletzt aufgrund gesellschaftlicher Widerstände [3]. Fachkräfte- und Personalmangel in den Zulieferbranchen oder den operativen Dienstleistungserbringern wirken sich ebenfalls negativ auf die Netzertüchtigung und den Netzausbau aus.

  • Wer ist betroffen?

    Die Ertüchtigung und der Ausbau der Stromnetze betreffen in erster Linie die Energiewirtschaft und als operative Dienstleister das Elektrohandwerk und den Tiefbau. Als Zulieferbranchen betroffen sind die Metall- und Elektroindustrie sowie die Roh- und Baustoffindustrie.

  • Beispiele
  • Welche Veränderungen ergeben sich für die Sicherheit und Gesundheit der Beschäftigten?

    Die Verteilnetze sind aktuell noch nicht für die entstehenden neuen Lastvorgänge ausgerichtet. Neben dem Bau neuer Leitungen und der Verstärkung von Kabeln und Transformatoren [9] bedarf es in erster Linie einer Ertüchtigung der Ortsnetzstationen, neuralgischer Netzknoten und ausgewählter Einspeiser mit intelligenter Kommunikations-, Mess-, Regel- und Automatisierungstechnik [10].

    Die mit den beschriebenen Maßnahmen einhergehenden elektrischen Gefährdungen oder Absturzrisiken sowie die Gefahren bei Tiefbauarbeiten sind bekannt und Präventionsmöglichkeiten etabliert. Das Forschungsprogramm "Strahlenschutz beim Stromnetzausbau" des Bundesamtes für Strahlenschutz soll offene Fragen klären bezüglich etwaiger gesundheitlicher Auswirkungen durch Exposition unterhalb der bereits bestehenden Grenzwerte gegenüber statischen und niederfrequenten elektrischen und magnetischen Feldern, die von Stromleitungen ausgehen [11].

    Die Einführung des Smart Grids ist ein anspruchsvoller Technologiesprung im Energiesystem, dem teils langwierige Festlegungsverfahren vorausgehen. In den Begleitprozessen spielt die erfolgsorientierte Interaktionsarbeit mit ihren möglicherweise psychisch fordernden Eigenschaften ebenfalls eine besondere Rolle [12]. Zudem gehen mit der Digitalisierung des Netzes zunächst Unsicherheiten und Veränderungen der Arbeitstätigkeiten und Qualifikationsbedarfe auf Seiten der Beschäftigten einher. Die zunehmende Komplexität und die fehlende Transparenz und Nachvollzieharbeit der immer stärker durch Künstliche Intelligenz übernommenen Netz- und Betriebsführung erschwert es, die Zusammenhänge im Netz bzw. den Anlagen tiefgreifend zu verstehen und zu überblicken. [13]. Das kann mit dem Gefühl der Entfremdung, des Kompetenzverlusts und/oder der Überforderung einhergehen.

    Nach gelungener Umsetzung ergeben sich aber auch Arbeitserleichterungen:

    Mithilfe der Herzstücke des Smart Grids, der Smart Meter, können Netzzustände in Echtzeit erfasst werden. Über das Smart Meter Gateway (SMGW) erhalten ÜNB beispielsweise Informationen über die gegenwärtigen und zukünftigen Netzzustände sowie Einspeise- und Verbrauchsdaten (Kraftwerkeinsatzplanungsdaten). Das trägt zur Stabilisierung des Netzes bei, denn so können die ÜNB die Netzbetriebsführung der kommenden Stunden planen und durch Steuerung und Regelung des Smart Grids kurzfristig Störungen abwehren [14]. Des Weiteren ergeben sich Möglichkeiten der vorausschauenden Instandhaltung, die Wartungszyklen verlängern und Wartungs- und Instandhaltungsarbeiten reduzieren [15]. Die flächendeckende Nutzung intelligenter Technik z. B. auch in Ortsnetzstationen erlaubt eine beschleunigte Entstörung durch eine genauere und schnellere Eingrenzung und automatische Umgehung der gestörten Stelle [16]. Das ermöglicht dem Entstördienst zielgerichteteres Arbeiten und nimmt Stress und Zeitdruck. Bei automatischer Entstörung muss zudem weniger Personal im Bereitschaftsdienst eingesetzt werden [15]. Das Smart Grid wirkt damit zu Teilen dem Fachkräfte- und Personalmangel entgegen.

    Die Energiewirtschaft stellt die kritischen Infrastrukturen für das staatliche Gemeinwesen bereit. Die zunehmende Digitalisierung und Vernetzung in der Energiewirtschaft lassen das Risiko für Cyberangriffe steigen und erhöhen die Anforderungen an die Industrielle Sicherheit und Datensicherheit. Ausfälle und signifikante Beeinträchtigungen können "erhebliche Störungen der öffentlichen Sicherheit oder andere dramatische Folgen" nach sich ziehen [17].

  • Was sind Erkenntnisse und Perspektiven für den Arbeitsschutz?
    • Im Zuge der Dekarbonisierung nehmen Planungs-, Abstimmungs-, Kooperations- und Koordinations-anforderungen sowie der Einsatz von Künstlicher Intelligenz zu, z. B. in der Netzsteuerung. Vor diesem Hintergrund kommt psychischen Belastungen, z. B. durch Interaktionsarbeit, in der betrieblichen Prävention der Energiewirtschaft größere Bedeutung zu.
    • Elektromagnetische Expositionen werden im Zuge der Dekarbonisierung komplexer und multifrequenter [18]. Dies betrifft z. B. Einrichtungen der Energieübertragungsnetze, Datenübertragungssysteme oder die E-Mobilität. Bereits heutzutage schützen Sicherheitsmaßnahmen Beschäftigte bei Arbeiten an vielen dieser EMF-Quellen. Ob und wie solche Sicherheitsmaßnahmen durch Innovationen und neue Techniken in Zukunft angepasst werden müssen, ist zu prüfen. Darüber ist weitere Forschung erforderlich, um bestehende und ggf. neu aufkommende Unsicherheiten hinsichtlich der Auswirkungen elektromagnetischer Felder auf den Menschen und die Umwelt zu klären.
    • Die Angreifbarkeit des Energienetzes steigt mit zunehmendem Vernetzungs- und Digitalisierungsgrad. Industrial Security wird damit zu einem wichtigen Arbeitsschutzthema in der Energiewirtschaft.
    • Der Ausbau der Energienetze hat viele Schnittstellen zum Ausbau erneuerbarer Energien und zur Weiterentwicklung von Speichertechnologien. Die dort beschriebenen Perspektiven gelten vielfach auch für diesen Trend.
  • Quellen

    [1] Erneuerbare Energien in Zahlen. Hrsg.: Umweltbundesamt, Dessau-Roßlau 2023 (abgerufen am 22.06.2023)

    [2] Netzentwicklungsplan Strom 2037 mit Ausblick 2045 Version 2023, zweiter Entwurf der Übertragungsnetzbetreiber (nicht barrierefrei) Hrsg.: 50Hertz Transmission GmbH; Amprion GmbH; TenneT TSO GmbH; TransnetBW GmbH, Berlin; Dortmund; Bayreuth; Stuttgart 2023 (abgerufen am 25.07.2023)

    [3] Aktueller Stand des Netzausbaus (Übertragungsnetz) (nicht barrierefrei). Hrsg.: Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz, Berlin 2023, 27.7.2023

    [4] Netzausbau Freileitungen (nicht barrierefrei). Hrsg.: Bundesnetzagentur für Elektrizität, Gas, Telekommunikation, Post und Eisenbahnen, Bonn 2019 (abgerufen am 18.08.2023)

    [5] Wirth, H.: Aktuelle Fakten zur Photovoltaik in Deutschland. Hrsg.: Fraunhofer-Institut für Solare Energiesysteme (ISE), Freiburg 2020 (abgerufen am 08.07.2020)

    [6] "Smart Grid" und "Smart Market" (nicht barrierefrei). Eckpunktepapier der Bundesnetzagentur zu den Aspekten des sich verändernden Energieversorgungssystems. Hrsg.: Bundesnetzagentur, Bonn 2011 (abgerufen am 18.08.2020)

    [7] Diskussionspapier. Netzbetrieb 2.0. Grundsätze des zukünftigen Netzbetriebs und der Zusammenarbeit von Übertragungs- und Verteilnetzbetreibern. Hrsg.: BDEW Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft e. V. , Berlin 2018 (abgerufen am 29.10.2020)

    [8] Bründlinger, T.; König, J. E.; Frank, O.; Gründig, D.; Jugel, C.; Kraft, P.; Krieger, O.; Mischinger, S.; Prein, P.; Seidl, H.; Siegemund, S.; Stolte, C.; Teichmann, M.; Willke, J.; Wolke, M.: dena-Leitstudie Integrierte Energiewende (nicht barrierefrei). Hrsg.: Deutsche Energie-Agentur GmbH (dena), Berlin 2018 (abgerufen am 29.06.2020)

    [9] Preiß, S.: Elektromobilität, Ladeinfrastruktur und das Netz: Aktuelle Entwicklungen. Hrsg.: EUWID Europäischer Wirtschaftsdienst GmbH, Gernsbach 2020 , 18.08.2020 (abgerufen am 31.08.2020)

    [10] iNES – Intelligentes Verteilnetz-Management-System In: SAG GmbH (Prod.), (2013) (abgerufen am 16.03.2021)

    [11] Das Forschungsprogramm. Hrsg.: Bundesamt für Strahlenschutz (BfS),, Salzgitter 2022, 17.06.2022 (abgerufen am 07.08.2023)

    [12] Barometer Digitalisierung der Energiewende (nicht barrierefrei). Berichtsjahr 2019. Hrsg.: Ernst & Young 2020 (abgerufen am 20.08.2020)

    [13] Wolf, S.; Korzynietz, R.; Gaaß, M.; Kraus, T.; Seifert, I.; Bürger, M.; Zinke, G.: Anwendung künstlicher Intelligenz im Energiesektor (nicht barrierefrei). Hrsg.: Begleitforschung Smart Service Welt II, Institut für Innovation und Technik (iit) in der VDI/VDE Innovation + Technik GmbH, Berlin 2019 (abgerufen am 30.10.2023)

    [14] Beschluss in dem Verwaltungsverfahren zur Festlegung von Datenaustauschprozessen im Rahmen eines Energieinformationsnetzes (nicht barrierefrei) (Strom) (BK6-13-200). Hrsg.: Bundesnetzagentur Beschlusskammer 6, Bonn 2014 (abgerufen am 19.08.2020)

    [15] Roth, I.: Working Paper Forschungsförderung Nummer 073 Digitalisierung in der Energiewirtschaft (nicht barrierefrei). Technologische Trends und ihre Auswirkungen auf Arbeit und Qualifizierung. Hrsg.: Hans-Böckler-Stiftung, Düsseldorf 2018 (abgerufen am 12.03.2021)

    [16] Netzinnovationen in Deutschland. Beiträge der Netzbetreiber zur Umsetzung der Energiewende. Hrsg.: BDEW Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft e. V., Berlin 2016 (abgerufen am 14.07.2020)

    [17] Klärung und Erweiterung des KRITIS-Vokabulars - Kriterien und Vorgehensweise (nicht barrierefrei). Hrsg.: Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BKK), Bonn 2021 (abgerufen am 18.08.2023)

    [18] Strahlenschutzfragen bei der Nutzung neuer Energien (barrierefrei). Zusammenfassung und Bewertung der Klausurtagung 2013 der Strahlenschutzkommission. Stellungnahme der Strahlenschutzkommission. Hrsg.: Strahlenschutzkommission, Berlin 2014 (abgerufen am 09.10.2023)

Trendbericht als PDF

Der Trendbericht als barrierefreie PDF-Publikation:

Ertüchtigung und Ausbau der Stromnetze (PDF, 1,3 MB, barrierefrei)

Ansprechpersonen

Dipl.-Psych. Angelika Hauke

Arbeitssysteme der Zukunft

Tel: +49 30 13001-3633


Dipl.-Übers. Ina Neitzner

Arbeitssysteme der Zukunft

Tel: +49 30 13001-3630
Fax: +49 30 13001-38001