Hektik und Stress bei der Arbeit, Belästigung und Mobbing, Pausenausfall und überlange Arbeitszeiten – davor wollen und müssen Betriebe ihre Beschäftigten schützen. Doch wie können sie die psychosozialen Risiken der Arbeit systematisch erfassen und welche Gegenmaßnahmen sind geeignet? DGUV Kompakt sprach mit Dr. David Beck von der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) und Esin Taşkan von der Berufsgenossenschaft Rohstoffe und chemische Industrie (BG RCI) über einen grundlegenden Ansatz, die Gesundheit der Beschäftigten umfassend zu betrachten und zu schützen.
Frau Taşkan, Herr Dr. Beck, wir haben einen zunehmenden Arbeitskräftemangel in Deutschland. Die Menschen sollen zudem länger arbeiten. Wie können Unternehmen ihren Beschäftigten helfen, gesund ins Rentenalter einzutreten?
Taşkan: Unternehmen sind verpflichtet, die Arbeit sicher und gesund zu gestalten. Traditionell bedeutete dies technische Verbesserungen, wie Schutzeinrichtungen an Maschinen oder ergonomische Anpassungen. Seit einigen Jahren wird zunehmend auch die psychische Belastung, beispielsweise durch zu starke Arbeitsverdichtung, Mobbing oder sogar Belästigung oder Gewalt am Arbeitsplatz in die Betrachtung einbezogen. Das ist wichtig, denn Stress kann Menschen krank machen und für lange Ausfallzeiten sorgen.
Die gesetzliche Unfallversicherung sieht in der Gefährdungsbeurteilung die Grundlage, um Gefahren am Arbeitsplatz zu erfassen. Das beinhaltet auch die psychische Belastung. Wird das Instrument in der Praxis angenommen?
Beck: Leider nicht flächendeckend. In kleinen Betrieben wird mehrheitlich keine Gefährdungsbeurteilung durchgeführt. In vielen großen Betrieben bleiben psychosoziale Risiken der Arbeit in der Gefährdungsbeurteilung häufig außen vor.
Was glauben Sie, woran liegt das?
Beck: Zum einen ist die psychische Belastung für den technisch geprägten Arbeitsschutz nach wie vor ein junges Handlungsfeld, in dem es in den Betrieben noch an Fachwissen und Erfahrung mangelt. Zum anderen sind Gefährdungen, etwa infolge einer zu hohen Arbeitsintensität, überlanger Arbeitszeiten oder inadäquaten Führungsverhaltens, auch recht schwierig zu beurteilen. Einige Betriebe scheuen sich davor.
Taşkan: Wir merken, es braucht seine Zeit bis sich die Prozesse zur Erfassung der psychischen Belastung bei der Arbeit etablieren. Das ist auch bei allen anderen Gefährdungen so. Beim ersten Mal kann es eine Hürde darstellen, den Prozess zu starten, weil zunächst verstanden werden muss, was genau mit welchen Methoden erfasst werden soll. Wir erleben es jedoch oft, dass Betriebe, wenn sie einmal begonnen haben, die Gefährdung durch psychische Belastung langfristig berücksichtigen.
Wie hilft die Unfallversicherung den Unternehmen?
Taşkan: Die Berufsgenossenschaften und Unfallkassen beraten und unterstützen die Betriebe gemeinsam mit den Arbeitsschutzbehörden der Länder. Oft reicht auch schon ein Blick in die jeweiligen Internetseiten der Träger, dort finden sich nützliche Informationen und auf Branchen oder Betriebsgrößen angepasste Konkretisierungen, die eine Umsetzung der Gefährdungsbeurteilung erleichtern. Ein wichtiger Beitrag ist auch die Überarbeitung der Empfehlungen der Gemeinsamen Deutschen Arbeitsschutzstrategie (GDA). Die 4. Auflage konkretisiert die Anwendung stärker und sorgt für mehr Handlungssicherheit in den Betrieben.
Wie kann man sich die Durchführung einer Gefährdungsbeurteilung vorstellen?
Taşkan: Eine Gefährdungsbeurteilung muss durchgeführt werden, sobald mindestens eine Person im Unternehmen beschäftigt ist. Das ist gesetzlich vorgeschrieben. Ziel ist es, präventiv zu handeln, damit es gar nicht erst zu Unfällen oder Überlastungen kommt. Dabei werden für jeden Arbeitsplatz, jedes Arbeitsmittel und jede Tätigkeit die möglichen Risiken erfasst. Das können technische Dinge sein, wie Gefahren durch die Bedienung von Maschinen oder fehlende Ergonomie. Aber auch die psychischen Aspekte müssen dokumentiert werden, wenn beispielsweise Übergriffe drohen. Das kann entweder über eine Befragung, über Workshops oder Beobachtung erfolgen. Werden Beschäftigte in diesen Prozess einbezogen, können Gefährdungen genauer identifiziert werden.
Beck: Sind alle Risiken erfasst, werden daraufhin passende Schutzmaßnahmen abgeleitet. Auch diese müssen dokumentiert werden. Das ist ein gemeinsamer Prozess der Arbeitgebenden mit den Beschäftigten und er muss regelmäßig wiederholt werden, wenn sich die Gegebenheiten ändern.
Gibt es Handlungshilfen, die durch den Prozess führen, besonders hinsichtlich der psychischen Gefährdungen?
Taşkan: Die GDA-Empfehlungen konkretisieren, welche Gefährdungen durch psychische Belastung beurteilt werden sollen. Daran kann man sich orientieren. Auch werden empfehlenswerte Vorgehensweisen und Methoden beschrieben, die Gefahren zu erfassen.
Beck: Grundsätzlich haben Unternehmen Handlungsspielraum wie sie die Gefährdungsbeurteilung durchführen. Die Dokumentation kann handschriftlich oder mithilfe einer Software erfolgen. Auch der Umfang der Dokumentation hängt von den Arbeitsabläufen ab.
Was sind die Herausforderungen der nächsten Jahre?
Beck: Der Austausch mit der betrieblichen Praxis ist wichtig, um gute und praktikable Lösungen bekannt zu machen, aber auch, um Probleme und Schwierigkeiten der Betriebe im Umgang mit psychischer Belastung besser zu verstehen. Am Ende sind sichere und gute Arbeitsbedingungen auch ein wichtiges Argument für die Arbeitskräftebindung. Mit der Gefährdungsbeurteilung lassen sich relevante Themen wie Arbeitsorganisation, Arbeitsumgebung, Aufgaben und Betriebsklima im Team ansprechen und für alle zum Vorteil gestalten.
Psychische Erkrankungen Jeder siebte Erwachsene hat mindestens einmal im Laufe seines Lebens die diagnostischen Kriterien für eine Depression erfüllt. Das sind innerhalb eines Jahres 7,1 % der Bevölkerung. Neue Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit aufgrund von Depressionen haben seit Beginn der 2000er Jahre erheblich zugenommen. (Quelle: RKI) |
Esin Taşkan leitet die Präventionsabteilung Gesundheit- Medizin-Psychologie der BG RCI und das Sachgebiet der DGUV "Psyche und Gesundheit in der Arbeitswelt".
Dr. David Beck ist Leiter der Fachgruppe "Psychische Belastung und Mentale Gesundheit" bei der BAuA.