Im Interview mit Dr. Edlyn Höller, stellvertretende Geschäftsführerin der DGUV und amtierende Präsidentin des Europäischen Forums Unfallversicherung
Im Europäischen Forum Unfallversicherung tauschen sich Organisationen aus 19 Ländern zu Kernanliegen und Prinzipien der Versicherung gegen Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten aus. Über die Themen der diesjährigen Jahreskonferenz sprach DGUV Kompakt mit Dr. Edlyn Höller. Sie zeigt die Bedeutung der Unfallversicherung in Europa und wagt einen Blick in die Zukunft.
Frau Dr. Höller, die COVID-19-Pandemie ist eine Krisensituation. Als Präsidentin des Europäischen Forums stehen Sie in engem Kontakt mit den anderen Unfallversicherern in Europa. Wie ist aktuell die Situation?
Die Pandemie ist tatsächlich eine enorme Herausforderung für alle. Aber sie hat auch gezeigt: Es ist gut, dass es eine Versicherung gegen Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten gibt. Natürlich mussten alle Unfallversicherungsträger in Europa zunächst das Tagesgeschäft unter Bedingungen des Infektionsschutzes organisieren. Die eigentliche Herausforderung besteht aber darin, erkrankten Versicherten Unterstützung anzubieten. Insbesondere Beschäftigte im Gesundheitswesen und in der Pflege sind von einer Infektion und den Folgen betroffen. Dass diese „frontline workers“ sich dabei auf den Schutz ihrer Versicherer verlassen können, ist wichtig in dieser historischen Ausnahmesituation.
Die Pandemie wird häufig als Treiber für die Digitalisierung von Wirtschaft und Gesellschaft bezeichnet. Das gilt auch für die gesetzliche Unfallversicherung. Wie sehen Sie Deutschland im Vergleich?
Wir haben in Deutschland bereits einiges auf den Weg gebracht – etwa die elektronische Unfallanzeige oder den digitalen Lohnnachweis. Wenn man sich aber anschaut, was in den nordischen und baltischen Ländern passiert, sieht man, dass in Sachen E-Government und elektronischer Datenaustausch noch mehr möglich ist. Auch das macht den Austausch im Europäischen Forum so wertvoll. Noch spannender finde ich allerdings die Nutzung der Künstlichen Intelligenz (KI). KI bietet interessante Möglichkeiten, das zeigen die Beispiele der Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt SUVA oder der BG ETEM, die KI in der Unfallsachbearbeitung sowie in der Regressbearbeitung bereits einsetzen.
Heißt das, der Computer könnte in der Unfallversicherung den Menschen als Entscheider ersetzen?
So weit sind wir noch nicht. Aktuell sehe ich das Potenzial von KI vor allem darin, Daten aus der Sozialversicherung aufzubereiten, das bedeutet Muster zu erkennen, daraus Wissen zu generieren und als Grundlage für menschliche Entscheidungen bereitzustellen. Die Verantwortung muss aber dem Menschen überlassen bleiben. Das hat verschiedene Gründe: Wesentlich für die Akzeptanz von Entscheidungen ist, dass die Versicherten sie nachvollziehen können. Das heißt, wir müssen die Gründe, auf denen eine Entscheidung beruht, darlegen können. Der Hinweis auf einen Algorithmus wird diesem Anspruch nicht gerecht. Außerdem müssen wir vermeiden, dass KI systematisch Menschen bevor- oder benachteiligt. Es ist ja eine Illusion zu glauben, dass KI per se vorurteilsfrei handeln würde. Auch dafür müssen Entscheidungswege nachvollziehbar sein, damit die Entscheidungen am Ende justiziabel sind. Das ist für eine staatliche Institution, die auf dem Boden des Rechts agiert, besonders wichtig.
Welche anderen Themen beschäftigen die Unfallversicherer in Europa?
Plattformarbeit ist ein Thema, weil es von vornherein länderübergreifend ist. Dann die soziale Dimension der EU: Wie geht es weiter mit der Europäischen Säule sozialer Rechte? Europa hat zwar dezidiert keine Kompetenz im Bereich der sozialen Sicherheit, aber die EU hat viele Wege gefunden, auf diesem Feld tätig zu werden. Wir wollen uns ganz gezielt anschauen, welche Initiativen die EU anstößt, uns gegenseitig informieren und gegebenenfalls auch gemeinsam reagieren.
Wie sieht es bei eher „klassischen“ Themen aus? Berufskrankheiten zum Beispiel?
Hier sehe ich Potenzial für eine intensivere Zusammenarbeit, vor allem in der Prävention. Da haben wir unheimlich viele Möglichkeiten, wenn wir gemeinsam forschen. Gerade mit Blick auf neue Gefahrstoffe. Ein weiteres Thema, das aktuell diskutiert wird, sind die beruflichen Einwirkungen auf die Psyche und deren Einfluss auf die Gesundheit. Die Grundprobleme sind in den Ländern die gleichen: dass die Grenzen zwischen beruflichen und privaten Einflüssen fließend sind, und dass nicht alles für jeden gleich belastend ist. Auch hier ist der Austausch über die verschiedenen Präventionsansätze überaus wertvoll.
Halten Sie es für möglich, dass man zu einer gemeinsamen rechtlichen Bewertung von Berufskrankheiten findet?
Das glaube ich eher nicht. Grundsätzlich sind zwar die naturwissenschaftlichen Wirkmechanismen weltweit dieselben. Eine Asbestfaser ist in Spanien oder Polen genauso gefährlich wie bei uns. Und natürliche UV-Strahlung mag in Intensität und Dauer von Land zu Land variieren und auf unterschiedliche Hauttypen treffen, sie kann aber generell Hautkrebs verursachen. Die Frage, welche rechtliche Bedeutung dem zugemessen wird, hängt allerdings von der jeweiligen Rechtssystematik und vom Aufbau des Systems der sozialen Sicherung ab. Nicht jede Unfallversicherung basiert auf der Idee der Haftungsablösung und eine Einordnung als Berufskrankheit führt in den unterschiedlichen Systemen zu unterschiedlichen Konsequenzen. Da ist es schwer, versicherungsrechtlich eine gemeinsame Linie zu finden.
Wie sehen Sie die längerfristige Entwicklung?
Eine der Konferenzsessions warf den Blick in die Glaskugel: auf das Jahr 2050. Europa tendiert dazu, im Rahmen der Verträge immer mehr Kompetenzen im Bereich der sozialen Sicherheit an sich zu ziehen – wobei das eine großzügige Auslegung der Verträge ist. Setzt sich das fort, könnte man 2050 tatsächlich fragen, ob es nicht nur eine Wirtschafts- sondern auch eine Sozialunion gibt. Das würde natürlich viele Folgefragen aufwerfen, zum Beispiel wer für die Finanzierung der sozialen Sicherheit die Verantwortung trägt.