Im Interview mit Michael Sauer: "Professionell und unbürokratisch reagieren – unabhängig von Zuständigkeiten"

Das Bild zeigt Michael Sauer, den Geschäftsführer der Unfallkasse Hessen.

Michael Sauer, Geschäftsführer der Unfallkasse Hessen
Bild: UK Hessen

Im Februar dieses Jahres jähren sich die Ereignisse von Hanau und Volkmarsen. Ein Mann hat in Hanau neun Menschen erschossen, in Volkmarsen wurde ein Fahrzeug in einen Rosenmontagszug gelenkt – mehr als 100 Menschen wurden verletzt. Bei Ereignissen dieser Art ist auch die gesetzliche Unfallversicherung in die Betreuung und Versorgung von Betroffenen eingebunden. Die Unfallkasse Hessen (UKH) hat in diesen beiden Fällen die Koordinierung für die gesetzliche Unfallversicherung und zum Teil für weitere beteiligte Institutionen übernommen. Bis heute werden Betroffene betreut und unterstützt. DGUV Kompakt sprach mit Michael Sauer, Geschäftsführer der Unfallkasse Hessen.

Herr Sauer, vor einem Jahr ereigneten sich in Hanau und Volkmarsen zwei Anschläge. Sie sprechen von Großschadensereignissen – was ist darunter zu verstehen?

Der Begriff „Großschadensereignis“ klingt erst einmal sehr technisch, dabei ist so ein Ereignis mit viel Leid für die Familien verbunden und betrifft auch das berufliche Umfeld. Es braucht aber Definitionen und Begriffe, um Prozesse zu beschreiben. So finden laut Definition Großschadensereignisse außerhalb einer Betriebsstätte im öffentlichen Raum statt, wie beispielsweise ein Flugzeugabsturz, Terroranschlag oder Amoklauf. Es ist absehbar, dass mit einer größeren Anzahl an Verletzten oder Geschädigten zu rechnen ist. Und es sind mindestens zwei Unfallversicherungsträger – also Berufsgenossenschaften oder Unfallkassen – betroffen. Treten diese drei Umstände ein, wird das DGUV-Standardverfahren zur Koordination des Ereignisses eingeleitet – mit zentraler Ansprechstelle auf Seiten der DGUV und koordinierender Stelle auf Länderebene.

Warum ist eine zentrale Koordinierung der Hilfsmaßnahmen notwendig?

Großschadenslagen sind für alle öffentlichen Akteure eine besondere Herausforderung. Staatliche Stellen und Hilfsorganisationen müssen in solchen Situationen zeigen, dass sie handlungsfähig sind. Für Berufsgenossenschaften und Unfallkassen bedeutet das: unabhängig von Zuständigkeiten unbürokratisch und professionell zu agieren. Es gilt, schnell wirksame Hilfe zu organisieren und nach außen hin mit einer Stimme zu sprechen. In extremen Situationen müssen wir sicherstellen, dass Kompetenzen gebündelt und Aktivitäten in Kommunikation, Rehabilitation und Prävention abgestimmt werden. Die gesetzliche Unfallversicherung hat Lehren aus vergangenen Ereignissen gezogen, zum Beispiel aus dem Anschlag am Berliner Breitscheidplatz im Dezember 2016. Ein Projekt zur besseren Koordinierung wurde angestoßen und 2019 abgeschlossen. Bei der DGUV gibt es nun die zentrale Ansprechstelle. Sie bündelt Informationen von staatlichen Stellen und Unfallversicherungsträgern und prüft die Einleitung des Verfahrens. Die Koordination auf Länderebene übernehmen die Unfallkassen für alle beteiligten Unfallversicherungsträger.

Wie hat die UKH beim Anschlag in Hanau reagiert?

Die zentrale Ansprechstelle der DGUV initiierte das Standardverfahren; die Unfallkasse Hessen wurde als koordinierende Stelle benannt. Es bestehen langjährige Kooperationen mit den unterschiedlichsten Organisationen: dazu gehören Ministerien, Rettungsdienste, der Arbeitskreis Psychosoziale Notfallversorgung der Stadt Frankfurt und das Schulische Kriseninterventionsteam des Hessischen Kultusministeriums. Wir haben glücklicherweise auch einen guten Draht zum Opferschutzbeauftragten der Bundesregierung, Prof. Dr. Edgar Franke. Unser internes Krisenteam ist bestens auf solche Fälle vorbereitet und konnte sofort mit der Arbeit beginnen.


Im Vordergrund des Bildes ist eine Absperrung zu sehen. Hinter dieser stehen zwei Feuerwehrmänner. Weiterhin sind Polizei- und rettungsfahrzeuge zu sehen.

Bild: s­motive/stock.adobe.com

Wie haben Betroffene von der Hilfe der gesetzlichen Unfallversicherung erfahren?

In unserem Auftrag verteilten die Hilfsorganisationen vor Ort Informationsmaterial, zum Beispiel zum Unfallschutz für Ersthelfende, zu Versicherungsschutz und Leistungen der gesetzlichen Unfallversicherung sowie die Broschüre „Traumabewältigung bei Erwachsenen“. Beschäftigte der Unfallkasse waren auch am „Runden Tisch“ vertreten. Außerdem wurde sofort die Dark-Site auf der Website der Unfallkasse geschaltet – mit direkter Kontaktmöglichkeit für Betroffene und mit Infos zu Versicherungsschutz und Leistungsumfang. Wir haben die Notfallnummer des Opferschutzbeauftragten des Bundes veröffentlicht und die Kanäle und Reichweiten der Sozialen Medien für diese Informationen stark genutzt.

In Volkmarsen gab es über 100 Verletzte. Wie konnten Sie konkret helfen?

43 Personen hatten sich gemeldet: Ersthelfende, Mitglieder von Hilfeleistungsunternehmen sowie Zeugen und Zeuginnen des Anschlags. Die UKH sorgte schwerpunktmäßig für individuelle, psychologische Betreuung, allgemeine Beratung und psychologische Erstversorgung. Sie organisierte außerdem Gruppengespräche zur Krisenintervention. Einige Menschen betreuen wir heute noch und wir rechnen mit weiteren Meldungen.

Kommen die Hilfsangebote bei den Betroffenen an?

Ja, die Hilfe kommt direkt und wirksam an. Sie wird dankbar an- und wahrgenommen. Die Rückmeldungen sind durchweg positiv. Die Auswertung und der Austausch zu den Ereignissen haben im November 2020 im Rahmen der Konferenz der koordinierenden Stellen stattgefunden. Wir haben dort unsere Abschlussberichte vorgestellt.

Wie ist die gesetzliche Unfallversicherung aus Ihrer Sicht aufgestellt?

Wenn es uns gelingt, unsere Kompetenzen zu bündeln, unsere Aktivitäten in Kommunikation, Rehabilitation und Prävention zu harmonisieren und mit unserem Know-how Menschen – auch außerhalb unseres Systems – zu helfen, dann haben wir alle die große Chance, unsere Reputation als verlässliche Akteure im System der sozialen Sicherheit in Deutschland zu festigen und zu erhöhen. Die Unfallkasse Hessen hat mit ihrer Koordination jedenfalls dazu beigetragen.