Interview mit Claudia Vaupel, Referentin Psychologie, Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege (BGW)
Gewalt gegen Pflegekräfte und Klinikpersonal steht immer mehr im Fokus der Öffentlichkeit. Die BGW hat verschiedene Studien zu Gewalt und Aggression in Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege durchgeführt. Zu welchem Fazit sind Sie gekommen?
Unsere Studien zeigen, dass bis zu 80 Prozent der Beschäftigten im Gesundheitsdienst regelmäßig Gewalt erleben. Verbale Gewalt hat nahezu jede und jeder Pflegende schon erlebt. Doch auch körperliche und sexuelle Gewalt sind keine Seltenheit. Am stärksten betroffen ist die Berufsgruppe der Pflegekräfte und besonders gefährdet sind Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Notaufnahmen. In einer Befragung unter Beschäftigten in Notaufnahmen von 2021 gaben 97 Prozent an, verbale Gewalt erlebt zu haben, körperliche Gewalt hatten 87 Prozent erlebt. Insbesondere verbale Gewalt bleibt oft undokumentiert. Doch alle Arten von Gewalt sind psychisch belastend für die Beschäftigten. Unsere Studien zeigen auch, dass Maßnahmen gegen Gewalt bei bis zu einem Drittel der Beschäftigten nicht bekannt sind. Das Gefühl, durch die Einrichtung gut auf mögliche Übergriffe vorbereitet zu sein, wirkt jedoch schützend vor psychischen Verletzungen.
Vier von fünf Beschäftigten im Gesundheitswesen erleben regelmäßig Gewalt. Das ist viel. Was sind die Folgen, wenn Beschäftigte im Gesundheitsdienst Gewalt erleben?
Das Erleben von Gewalt beeinträchtigt das Befinden der Betroffenen, was sich beispielsweise in Depressivität, psychosomatischen Beschwerden und emotionaler Erschöpfung zeigt. Ernsthafte körperliche und psychische Störungen können die Folge sein. Nicht zu vernachlässigen sind die sozialen Folgen, die auch Kolleginnen und Kollegen, Unternehmen sowie Patientinnen und Patienten treffen: Demotivation, Einbußen in der Qualität der Pflege, Spannung im Team, hoher Krankenstand bis hin zur Fluktuation. Diese Folgen treten zeitversetzt auf und sind oft gar nicht mehr auf die Ereignisse zurückzuführen. Deswegen ist es umso wichtiger, dass Führungskräfte im Berufsalltag das Thema aufgreifen, würdigen und angehen. Übergriffe durch zu Betreuende werden immer noch als "Part of the Job" erlebt. Diese Einstellung wird umso mehr begünstigt, wenn in den Einrichtungen eine Kultur des Wegschauens oder Bagatellisierens herrscht im Sinne von "das ist doch nicht so schlimm, da musst du durch".
Wichtig ist also, das Thema Gewalt in den Einrichtungen explizit anzugehen. Welche Unterstützungsangebote bietet die BGW Unternehmen und betroffenen Personen an?
Die Angebote der BGW für Unternehmen dienen der Prävention von Gewalt und haben als Ziel, das Thema ganzheitlich anzugehen: Die BGW bietet Beratung und Organisationsentwicklung in den Kliniken und Einrichtungen zur Etablierung eines Gewaltmanagementsystems an, außerdem Qualifizierungsangebote für Führungskräfte und Entscheider. Zu den personenbezogenen Präventionsangeboten zählen Trainings zum Umgang mit sexualisierter Gewalt und Belästigung. Darüber hinaus bezuschusst die BGW Deeskalationstrainings. Damit Beschäftigte nach Gewaltvorfällen schnell Hilfe erhalten, fördern wird die Ausbildung kollegialer Erstbetreuung für Beschäftigte. Nach einem Ereignis können Betroffene außerdem telefonisch psychologische Beratung und Sitzungen in Anspruch nehmen.
Sie sprechen die Versorgung von Betroffenen nach Gewalterlebnissen an. Was raten Sie Pflegekräften und Ärzten, die Gewalterlebnisse erfahren haben?
Erst mal der eigenen Wahrnehmung trauen, und Vorfälle nicht herunterspielen. Das Erleben von Belästigungen und Gewalt ist eine erhebliche psychische Belastung und nicht hinnehmbar. Den Patienten gegenüber müssen Grenzen klar kommuniziert werden dürfen. Um diese Sicherheit zu haben, sollten auch Dienstvereinbarungen und Handlungsanweisungen existieren. Vorhandene Hilfsangebote sollten sie nutzen und einfordern. Eine wichtige Voraussetzung: Vorfälle sollten sie immer an Führungskräfte melden. Nur dann kann Hilfe und Unterstützung angeboten werden. Zudem sollte der Vorfall in der Einrichtung dokumentiert und an die BGW gemeldet werden. Nur dann können wir als BGW die Betroffenen mit psychotherapeutischen Sitzungen unterstützen.
Führungskräfte und Unternehmensleitung spielen demnach eine wichtige Rolle beim Thema Gewalt. Was können sie konkret in der Gewaltprävention tun?
Die Entscheider in Unternehmen sind für die Gesundheit und Sicherheit der Beschäftigten zuständig. Dazu gehört, regelmäßig die psychische Gefährdungsbeurteilung durchzuführen und ein Konzept für systematisches Gewaltmanagement zu etablieren. Das heißt, das Handlungsfeld wird in allen Prozessen berücksichtigt, zum Beispiel auch beim Onboarding von neuen Fachkräften und in der Ausbildung von Gesundheits- und Pflegeberufen. Das Gesundheits- und Sozialwesen ist der mit am stärksten von Gewaltereignissen betroffene Wirtschaftszweig in Deutschland, insofern muss das Thema Top-Priorität im Management werden. Führungskräfte spielen die entscheidende Rolle, wenn es um die Prävention oder Nachsorge von Gewaltereignissen am Arbeitsplatz geht. Sie vermitteln mit ihrem Verhalten den Beschäftigten, dass sie ernstgenommen werden und Gewalt nicht geduldet wird.